

Waldsterben und erste Küsse
Sebastian Fasthuber in FALTER 42/2017 vom 20.10.2017 (S. 31)
Autorin Kirstin Breitenfellner erzählt in dem Roman „Bevor die Welt unterging“ vom Aufwachsen in den finsteren 80ern
Die Jugend ist eine schreckliche Zeit. Mit dem Körper passieren komische Dinge, das Gefühlsleben ist mit dem Eigenschaftswort „wechselhaft“ euphemistisch umschrieben, und im Kopf regen sich erste eigene Gedanken. All das zusammen ergibt einen Cocktail namens Verwirrung. Nachher wünscht man sich oft, man hätte diese Zeit intensiver erlebt. Charlie Chaplin meinte: „Die Jugend wäre eine schönere Zeit, wenn sie erst später im Leben käme.“
Seine Worte hat Falter-Autorin Kirstin Breitenfellner ihrem Roman „Bevor die Welt unterging“ vorangestellt. Mit 30 Jahren Abstand blickt sie darin auf ihre eigene Jugend zurück. Die Hauptfigur Judith hat mit ihr nicht direkt etwas zu tun, die beschriebene Zeit und Lebenswelt beruht aber auf eigenen Erinnerungen und Beobachtungen. In Zwei-Jahres-Sprüngen (1980, 1982, 1984, 1986) führen die vier Kapitel durch die Dekade von Helmut Kohl, Aids und Tschernobyl, das Vorspiel ist 1979 angesiedelt, der Epilog spielt 1989 und endet mit dem Fall der Mauer, von dem Judith mit Verspätung aus der Zeitung erfährt.
Am Beginn der Handlung ist sie 13 und beginnt gegen ihren Vater zu rebellieren. Der hat sich aus einfachen Verhältnissen emporgearbeitet, etwas geschaffen und ist überzeugt, dass das auch der Weg für seine Tochter ist: „Leistung machte sich bezahlt, Leistung bedeutete Wachstum, Wachstum bedeutete Fortschritt, Fortschritt bedeutete Reichtum.“
Judith will davon nichts wissen. Sie will sich eine eigene Meinung bilden, liest Bücher über den Holocaust und die Endzeit-Schriften von Hoimar von Ditfurth („So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen“), demonstriert gegen das Waldsterben und hält den Kapitalismus für gescheitert (damals schon!). Es kommt zu Auseinandersetzungen mit den Eltern, denen ihr Kifferfreund ein Dorn im Auge ist. Dabei ist Judith ihrem Vater näher, als dieser ahnen würde und sie sich eingestehen möchte.
Den Joint lässt sie an sich vorbeiziehen, weil sie den Kontrollverlust fürchtet. Auch mit dem WG-Sprech wird Judith nicht warm, den Zuruf „Sei spontan!“ empfindet sie als erzwungene Befreiung. Ihre Freunde träumen davon, als Selbstversorger autonom zu leben. Sie bezweifelt, dass das möglich ist.
Die Heldin von „Bevor die Welt unterging“ ist eine gute Figur, um diese zwischen Poppern und Aufsteigergelüsten auf der einen, Ökos und Aussteigergelüsten auf der anderen Seite gespaltene Zeit zu verstehen. Denn Judith gehört, obwohl sie zur einen Seite tendiert, nirgends wirklich dazu, beobachtet mehr als zu handeln. Die Erzählhaltung ist etwas unentschieden. Anstatt ganz auf den Teenagerblick zu vertrauen, zog Breitenfellner einen allwissenden Erzähler als zusätzliche Reflexionsebene darüber ein. Mitunter wechselt die Position überraschend. Mal ist von der jungen Judith die Rede, mal von der Frau, die später aus ihr geworden ist: „Es sollte lange dauern, bis Judith zugeben würde, dass ihre Eltern nicht alles falsch gemacht hatten.“
Man merkt „Bevor die Welt unterging“ an, dass Breitenfellner es gewohnt ist, abzuwägen und verschiedene Positionen zu zeigen. Als Journalistin ist sie für Sachbücher zuständig und schreibt Essays, während der Entstehung ihres Romans einen über Tschernobyl. Die essayistischen Passagen über Gorbatschows Rolle bei der Aufarbeitung der Nuklearkatastrophe oder über den Falkland-Konflikt, die sie in den Roman eingestreut hat, hätte es aber nicht unbedingt gebraucht.
Am stärksten ist Judiths Stimme, wenn sie ungefiltert aus der Vergangenheit kommt. In ihr Tagebuch schreibt sie mit 15: „Im Schwimmen bin ich die einzige, die einen Bikini anhat. Lutz guckt mich immer so an.“ Einmal geht es über drei Seiten darum, wie ein Nachmittag damals verbummelt werden konnte: Man will jemanden besuchen, der ist nicht zu Hause, man schnorrt sich Münzen für die Telefonzelle, doch der Apparat funktioniert nicht – am Ende geht man unverrichteter Dinge nach Hause. Die Leichtigkeit dieser Passagen verhindert, dass dieser kluge, in einer klaren Sprache geschriebene Roman zu schwer wird.
Buchpräsentation am 19.10., 19 Uhr, in der Buchhandlung Orlando