

Kratzbürste, Faserschmeichler und Drittelmaus
Peter Iwaniewicz in FALTER 41/2011 vom 14.10.2011 (S. 35)
Tiere: Zwei Bücher über animalisierte Menschen und imaginäre Tiere leuchten Gemeinsamkeiten und Unterschiede aus
Im Berliner Bode-Museum ist noch bis 20. November die Ausstellung zur italienischen Porträtkunst "Gesichter der Renaissance" zu sehen. Hier kann man die Anfänge jenes Paradigmenwechsels in der bildenden Kunst mitverfolgen, seit dem nicht nur Aussehen und gesellschaftliche Funktion eines Menschen abgebildet werden, sondern die Künstler auch die dahinterliegende Persönlichkeit sichtbar zu machen versuchen.
Der kroatische Maler, Bildhauer und Designer Svjetlan Junakovic Ž hat einige dieser klassischen Porträtbilder neu gemalt, wobei er den Charakter der Porträtierten dadurch nachzuempfinden versucht, dass er diese als Tiergestalten darstellt. Jacques-Louis Davids Marat wird zum Huhn, das Selbstporträt Dürers wird zum Löwen, und bei Vermeers "Mädchen mit dem Perlohrgehänge" blickt einem ein Schaf entgegen.
Die beigestellten kurzen Texte wollen das eine Mal witzig sein, dann blitzt die Sprache eines Kinderbuchs auf, und dazwischen gibt es für Bildungshungrige auch Hinweise zur Interpretationsgeschichte des Originals.
Die neuen Gemälde sind durchaus kunstfertig, aber die allzu vordergründigen Tierstereotypien dieses Bestiariums engen die Rezeptionsmöglichkeiten der Originale zu stark ein und entlocken beim Durchblättern nicht mehr als ein höfliches "Nett!".
Begegnen sich Natur und Kultur, dann treffen zwei sich scheinbar ausschließende Begriffe aufeinander. Bedienen sich zwei Künstler der wissenschaftlichen Methode der Klassifikation, um die belebte Welt zu beschreiben, dann prallen die antagonistischen Kräfte von Poesie und Bürokratie aufeinander.
Der Schriftsteller und Übersetzer Michael Stavaricˇ hat gemeinsam mit der Künstlerin Deborah Sengl mit dem Buch "Nadelstreif und Tintenzisch" eine systematisierende Kulturgeschichte imaginärer Tiere vorgelegt, die sich grundsätzlich in guter Gesellschaft anderer Grenzüberschreitungen zwischen Kunst und Wissenschaft befindet.
Christian Morgenstern (1871–1914) legte mit seinen Nonsensgedichten "Das Mondschaf" und "Das Nasob¯em" den Grundstein für die Schöpfung imaginärer Tierarten.
Friedrich Heller und der österreichische Künstler Walter Schmögner schufen Anfang der 1980er-Jahre mit "Konrad Vogels Neues Tierleben fürs deutsche Heim" ein poetisch wie grafisch anspruchsvolles Tierlexikon mit Arten wie dem kolumbianischen Eisenschwein, der Geisterschrecke und dem Tränenaas.
In diesem Lügenlexikon lugt aber zwischen dem Nonsens eine Streitschrift gegen beschränkte Denkart und kleinhirnige Wissenschaftsanbetung hervor. Stavaricˇ sprengt mit seiner Einführung die engen Grenzen der heutigen wissenschaftlichen Klassifikationssysteme und reklamiert für seine Auswahl von Tieren die Zuordnung zur Kategorie "bislang noch im Untergrund operierende und entschlossene Tiere, deren Ratifizierung in den meisten Ländern noch aussteht".
Das klingt erfrischend poetisch und wird von Zeichnungen des Shootingstars Deborah Sengl begleitet. Mit kleinen Skizzen und Kommentaren porträtiert sie ein Bestiarium, das Lebewesen wie die Kratzbürste, den Faserschmeichler und die Drittelmaus beschreibt.
Hinter den Zerrspiegelgeschichten von angeblich bösen oder wilden Tieren sind unsere eigenen hässlichen Fratzen zu erkennen, und wenn von klugen Tieren erzählt wird, drückt sich der geheime Wunsch aus, genauso frei und so weise zu leben wie diese Tiere. Die Texte sprühen vor Sprachwitz und Lautmalereien, doch bald lässt der Reiz der feinziselierten Sprachfiguren nach. Von den eingangs beschriebenen Überlegungen zur Einteilung und Beschreibung der Welt spürt man nichts.
Der letzte Eintrag, "Hüftgold mit Flügeln" (eine interstellare Spezies), endet abrupt, und man weiß nicht, ob jetzt das Ende dieser Reise durch eine andere Welt erreicht wurde oder bei dem Leseexemplar nur einige Seiten vergessen worden sind.
In dieser Rezension ebenfalls besprochen: