

"Das Ich ist höchstens der Hausmeister"
Klaus Nüchtern in FALTER 45/2022 vom 11.11.2022 (S. 33)
Wenn der Verlag Elfriede Jelineks demnächst erscheinenden Prosatext "Angabe der Person" - es ist der erste seit 15 Jahren - als "Lebensbilanz" ankündigt, werden nur Ahnungslose damit rechnen, dass die Autorin ihr Privatleben preisgibt. Zwar hat sie sich in ihrem Werk stets auch auf die eigene Herkunft bezogen und die Kindheit, zerrissen zwischen dem Katholizismus der Großmutter, dem Musikdrill der übermächtigen Mutter und dem Sozialismus des jüdischen Vaters, als "unerschöpfliche Hassbatterie" genutzt.
Aber eben bloß als Material, das demselben "fernen Blick" ausgesetzt wird, mit dem Jelinek generell auf die Gesellschaft blickt, um die Macht-und Geschlechterverhältnisse zur Kenntlichkeit zu entstellen. Nichts ist ihr verdächtiger als die Berufung auf die Authentizität des selbst Erlebten und Erlittenen. Das Ich sei nicht Herr im eigenen Haus, sondern "höchstens der Hausmeister, der die Böden des Bodenlosen aufwischt", heißt es in einem ihrer Texte.
Schon der Titel von Claudia Müllers Dokumentarfilm "Elfriede Jelinek -Die Sprache von der Leine lassen" bringt den Ansatz der österreichischen Autorin auf den Punkt: Es ist der kontrollierte Kontrollverlust. Eine souveräne, verlässliche Erzählerin oder zur Identifikation einladende Figuren wird man in den Texten Jelineks nicht finden; alles ist hier Sprachmaske und Rollenprosa. Aber gerade indem sich die Autorin den Assoziationen, Assonanzen, semantischen Ambivalenzen und kruden Kalauern überlässt, wird etwas zutage gefördert, das sonst im Verborgenen bliebe: Nicht die Autorin, die Sprache selbst spricht es aus.
Die Regisseurin, die davor Filme über Jenny Holzer, Valie Export oder Helmut Lang gedreht hat, wird der Protagonistin ihrer jüngsten Arbeit auf ebenso exemplarische wie elegante Weise gerecht. Neben Archivmaterial, das auch Familienfotos und Interviews mit Jelinek enthält, ist es vor allem die Ton-Bild-Montage, die den Duktus der Doku bestimmt: Ruhige Kamerafahrten werden mit Texten aus dem Off kombiniert, durch die Bank großartig gelesen von Sandra Hüller, Maren Kroymann, Stefanie Reinsperger, Ilse Ritter, Sophie Rois und Martin Wuttke. Bei aller barocken Sprachgewalt der Jelinek'schen Prosa gewinnt der Film dadurch eine sanfte Suggestivität, die einen dem Gegenstand absolut entsprechenden Zug ins Unheimliche aufweist: Die dräuende Präsenz der steirischen Bergwelt und die historistische Architektur des Burgtheaters werden einander irritierend ähnlich.
Als öffentliche Person war die bei ihren Auftritten stets untadelig gestylte Autorin nicht nur eine Stilikone, sondern auch eine Ikone der Zeitgeschichte. So wie auch "die Dohnal" verkörperte "die Jelinek" eine politische Haltung, die beileibe nicht nur Männer provozierte. Mit geradezu biblischem Furor arbeitete sie sich an Todsünden wie "Lust" (1989),"Gier" (2000) und "Neid" (2008) ab, kratzte unermüdlich und verbissen am dünnen Firnis der Zivilisiertheit einer sich kultursinnig und sportnarrisch gerierenden Nation, unter dem nichts als Niedertracht und Barbarei sichtbar wurden.
Zur Persona non grata wurde Jelinek 1985 durch ihr Stück "Burgtheater". Dass dieses an die Nazi-Vergangenheit der geradezu religiös verehrten Schauspielerin Paula Wessely erinnerte, die sich für den üblen Nazi-Propagandafilm "Heimkehr" (1941) hergegeben hatte, konnten ihr viele nicht verzeihen.
Die "notorische Nestbeschmutzerin" sollte ihren Ruf nicht mehr loswerden. Als ihr 2004 der Literaturnobelpreis verliehen wurde, konnte man in Funk und Fernsehen die Stimmen der "Menschen von der Straße" vernehmen, die sich über die Entscheidung echauffierten, ohne je eine Zeile der Ausgezeichneten gelesen zu haben. Jelinek, die, von einer Angststörung geplagt, sich außerstande sah, den Preis in Stockholm persönlich entgegenzunehmen, zog sich endgültig aus der Öffentlichkeit zurück und hat seitdem keine Interviews mehr gegeben.
Es ist selbst für Zeitzeugen, die seinerzeit "dabei waren", überraschend, wie scharf und schmerzvoll Grandioses und Gemeines ins Gedächtnis gerufen wird: Ereignisse, die man schon halb vergessen hatte oder gern vergessen hätte. Einar Schleefs kongenial wuchtige und wahrlich sportliche Uraufführung des "Sportstücks" (1998); die geradezu gruseligen Auftritte des christliche Werte beschwörenden Kurt Waldheim; die schneidende, manipulative Kälte Jörg Haiders. Die Deutsch-und Geschichtelehrer dieses Landes mögen ihre Klassen scharenweise in die Kinos treiben!