

Sonntägliche Vorfreude auf den Montag
Thomas Ballhausen in FALTER 11/2012 vom 16.03.2012 (S. 10)
Alles blüht, zwitschert, sprießt. Wo man das neue, durch und durch grandiose Buch Friederike Mayröckers aufschlägt – und man ist versucht, dieses Buch immer wieder neu aufzuschlagen –, springen einem das Leben und die Vitalität der Natur förmlich entgegen. Fauna und vor allem Flora prägen die Naturbilder, die idyllischen Entwürfe. Fast schon möchte man diese Bilder unhinterfragt annehmen, ist die eine oder andere Blütenspur doch schon in früheren Texten der Autorin nachweisbar.
Nicht zuletzt passt ja auch die vielfach aufgerufene, bekannte Stiftungsszene ihres dichterischen Auftrags im Weinviertler Deinzendorf perfekt in diese Bilderreihe: Da gerät, wie schon oft von Mayröcker beschrieben, ein Busch in Flammen. Hier stehen nun die Blumen in voller Blüte. Benetzt von (Freuden-)Tränen der Erzählerin gedeihen sie selbst in den unwirtlichsten Gegenden.
Ist die gebotene Schönheit also doch nur Teil eines größeren, sich entfaltenden Fehlersuchbildes? Mitnichten, die Pracht, die hier ausgebreitet wird, ist echt. Doch nicht weniger real als die herbeierzählten Pflanzen ist der unterschätzte Schatten, den sie werfen. Diese Blüte ist eine, die die Erzählende überholt, ein bunter Reigen, der über die Lebensspanne der Berichtenden hinauszugehen scheint. Da verspricht der Titel nichts Falsches, vielmehr löst er sich mit all seiner munteren Traurigkeit, die hier lauert, ein.
Wie ein mahnender rhythmischer Baustein taucht der Satz "ich sitze nur GRAUSAM da" im Text immer und immer wieder auf. Zweiter Teil des Refrains ist das ebenfalls mehrfach integrierte "Ich faltete die Hände und hockte mich ins Geäst". Sitzend und hockend beobachtet die Instanz den Fortgang des Lebens ringsum. Mit dem geschärften, fokussierten Blick der Dichterin, der den Möglichkeiten und Limits eines Türspions vergleichbar ist, werden die Jahreszeiten examiniert, einerseits der unüberlesbare Sommer, andererseits ein sich langsam einschleichender, ja breitmachender Winter.
Das Alter und die sich bemerkbar machenden Aspekte des Körperlichen, die Beschwerlichkeiten, die in den letzten Bänden Mayröckers so meisterhaft verhandelt worden sind, treten in dem neuen Buch nun zugunsten einer beinahe schon unheimlich anmutenden Leichtigkeit zurück. Das erzählende Ich hält inne, fühlt sich als Fiktion, als Erfindung. Die vorbeugende Geisterrede ist an sich selbst gerichtet – "das also war das Leben als Poet", heißt es an einer bezeichnenden Stelle – wie an das aus anderen Werken schon bekannte Gegenüber Ely. Dieser permanente Gesprächspartner, der zumindest in Teilen an Friederike Mayröckers Lebensgefährten Ernst Jandl gemahnt, ist eine nicht minder gespenstische Erscheinung.
Erinnerung und Entwurf gehen in der intensiven Lebenskurzschrift der Autorin ebenso ineinander über wie die verschlungen dargestellten Figuren in der Coverabbildung des Bandes. Dem Wildwuchs der Freude, der ringsum passiert, steht ein "es geisterte in mir" entgegen, das sich nicht zuletzt auch in der Gestaltung des gewobenen Gespinsts abformt: "Mein zerfledderter Text" ist von Brüchen durchzogen, vom Unterlaufen der eigenen Vorgaben, vom durchaus auch witzigen, doch ernst gemeinten Spiel, der Zeit die Schrift entgegenzuhalten.
Während die wortwörtlichen Geister in schwarzen Kutschen durch die Straßen donnern oder ein schrilles Sturmläuten an der Türe Panik auszulösen vermag, fließt der Textstrom immer weiter dahin. Ergänzt um Einschübe der Verdeutlichung, Zeichnungen oder gar eine freundlich hereindrängende Handschrift, gruppiert sich der Hauptteil des Buches um Lektüreerfahrungen, um eine Vielzahl von Referenztexten, die ihrerseits wiederum (auch) als Gärten lesbar werden.
Mayröcker stöbert und findet, eine Auswahl aus dem angedeuteten Pensum geht in eine Verarbeitung über, einen hochgradig sensiblen wie reflexiven Schreibstrom. Neben Jean Genet und Francis Ponge ist Jacques Derridas "Glas", seine umfangreiche Studie über Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Genet in zwei parallelen Kolumnentexten, der zentrale Referenztext. So heißt es etwa: "was werde ich lesen wenn ich GLAS (von JD) ausgelesen haben werde, sage ich zu Ely, diese einzige Lektüre, sage ich, werde ich GLAS von vorne zu lesen beginnen."
Doch gleich dem Schatten der Blüten bewegt sich unter diesem kräftigen Textbezug ein weiterer, der zu Derridas wenig gelesenem Bändchen "As If I Were Dead", das, wie der gleichfalls wunderschöne wie sprechende Buchtitel, auf den Weitergang der Welt nach dem eigenen Verschwinden setzt, "als würde alles so weitergehen wie immer". Das Abarbeiten an dieser Perspektive wird von einigen zusätzlichen Postskripta erweitert. Das abschließende, letzte "Supplement", das dem Haupttext folgt, schließt dahingehend stimmig an: "ich sitze nur grausam da – begleite mich nach dem Tod noch 1 Zeit wie wenn ich noch lebte das würde mir wohltun."
Im Bild zu fehlen, aus dem Bild zu fallen ist für Lebende wie Gespenster zweierlei. Im vorliegenden "ich sitze nur GRAUSAM da" ist schon die Rede vom "waghalsigen Unternehmen, ein neues Buch zu schreiben". Der Gedanke an das nächste Werk, an den Prozess des Schreibens (und Weiterschreibens) steht der fragenden Befürchtung "bin ich schon im Sinkflug" erfreulich entgegen.
Die den Text durchziehende Freudigkeit, so etwas wie eine freundlich-gespenstische Aufhebung der Naturgesetze, lässt neuen, vielleicht wiederentdeckten Schwung spüren. Mit dem vorliegenden Band ist Friederike Mayröcker so deutlich im "Bild" wie schon lange nicht mehr: "am Sonntag Nachmittag sich auf den Montag freuen, sage ich, frischer Wochenbeginn usw."