

Das Spiel mit dem Teufel
Lina Paulitsch in FALTER 30/2022 vom 29.07.2022 (S. 31)
Als Violeta kopfvoran auf den Boden knallt und das Licht der Welt erblickt, steht Chile unter Quarantäne. Es ist das Jahr 1920. Eine Seuche, über die zunächst spanische Zeitungen berichtet hatten, fordert auch in Südamerika unzählige Opfer. Violeta ist das einzige Mädchen der Familie, ein "mit seinem Gebrüll die Wände erschütterndes Gör".
Zwei Pandemien bilden die erzählerische Klammer von Isabel Allendes Briefroman "Violeta". Als Hundertjährige erahnt Violeta ihren baldigen Tod und adressiert ihren Enkel Camilo. Sie vermacht ihm die verborgene, schmutzige und berührende Familiengeschichte. "Mein Leben ist es wert, erzählt zu werden, was weniger an meinen tugendhaften als an meinen sündigen Taten liegt, von denen Du viele nicht ahnst", schreibt Violeta. Die Sünde ist der rote Faden ihres 400 Buchseiten zählenden Briefes.
Violeta ist eine Allendesche Paradefigur: kämpferisch, weiblich, im Konflikt mit männlicher Fremdbestimmung. Isabel Allende ist die bekannteste Autorin Lateinamerikas, sie lebt in den USA. Während die Kritik ihr Erstlingswerk "Das Geisterhaus" (1982) in höchsten Tönen lobte, schubladisiert sie das deutschsprachige Feuilleton heute unter "Kitschliteratur". Mit 51 Millionen verkauften Exemplaren ist dieser Kitsch jedenfalls von Erfolg gekrönt.
Allende verwebt die Historie ihrer Heimat Chile mit dem Tun und Treiben ihrer Protagonisten. In den 1920ern ist Violetas Vater Geschäftsmann. Seine sechs Kinder bringt er mit Betrügereien und einem üppigen Schuldenberg über die Runden. Als die Weltwirtschaftskrise 1929 auch Südamerika erreicht, steht die Familie vor dem Ruin. Die elfjährige Violeta findet ihren Vater am Schreibtisch sitzend, mit einer Kugel im Kopf -der erste einer Reihe von Schicksalsschlägen.
Den Erzählstoff schöpft Allende vor allem aus ihrem eigenen Leben. Sie wächst ohne Vater auf, er verlässt die Familie früh. Die Mutter erzieht die drei Kinder alleine. Der Cousin des Vaters, Chiles späterer Präsident Salvatore Allende, wird beim Putsch 1973 getötet. Die Zeit der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet erlebt Allende zunächst als Journalistin und Frauenrechtlerin. In den 1970ern gründet sie die feministische Zeitschrift Paula. Paula heißt auch Allendes Tochter. Sie verstirbt mit nur 29 Jahren an einer seltenen Krankheit.
Romanfigur Violeta findet nach dem Suizid des Vaters Unterschlupf auf einem Bauernhof in den Bergen. Ihre Jugend verbringt sie inmitten der indigenen Bevölkerung, entgeht nur knapp einer Vergewaltigung und heiratet aus Langeweile einen deutschen Siedler.
Gebrochen wird die Narration durch die Affäre mit Julián Bravo, ein Spiel mit dem Teufel, das Violetas Ehe beendet. Mit ihm erlebt Violeta sexuelle Lust und Erfüllung, später wird Julián gewalttätig, lügt und betrügt. Über Jahre hinweg schafft es Violeta nicht, sich von ihm zu lösen.
Damit verarbeitet die Autorin ihre feministische Perspektive. In ihrem 2021 erschienenen Buch "Was wir Frauen wollen" bezeichnet Allende Männer als "Raubtiere", vor deren Raffgier und Gewalt Frauen zu schützen seien. Das Ende des Patriarchats könne dann erreicht werden, wenn die "friedfertigen" Frauen an die Macht kämen. Allende verharrt damit in einer betont binären Position und erklärt lapidar, dass sie von der aktuellen Genderdebatte nur über ihre Enkelkinder informiert werde. Dieser vertrauliche, unaufgeregte Ton macht Allendes feministisches Plädoyer auch der breiten Masse zugänglich. Grundrechte für Frauen, Schutz vor Ausbeutung und Gewalt - das sind ihre Anliegen, für die sie sich finanziell engagiert.
Die Kraft des sexuellen Begehrens ist dabei ein wiederkehrendes Motiv. "Für eine kokette Frau wie mich ist das Altwerden hart. Im Innern bin ich weiterhin verführerisch, es merkt bloß keiner", schreibt Allende und kritisiert die patriarchale Ordnung, nach der eine postmenopausale Frau nicht mehr als sexuelles Wesen empfunden würde. Und wie ihre Romanfigur ist die Autorin selbst nicht frei von Widersprüchen. Immer wieder habe sie, schreibt Allende, sich in emotionale Abhängigkeiten verstrickt, ihre Kinder für einen Mann verlassen und Gewalt freiwillig ertragen. Erkenntnisreiche Gedanken zur toxischen Beziehung liefert der neue Roman aber leider nicht.
Violetas Brief plätschert vor sich hin, erzählt freimütig vom potentiellen Inzest ihres Partners mit der eigenen Tochter. Aber klar, so liest man, der gute Sex habe eben jeden Elternkonflikt gelöst und der Erzählerin eine rosarote Brille verpasst. Später stirbt die Tochter an Drogenexzessen, den Sohn Camilo zieht Großmutter Violeta auf.
Im Plauderton bleibt der Roman romantisch-beliebig, stoppelt Erdbeben, Pandemie und Kubakrise zusammen und scheitert an der Fülle der Ereignisse. Zum runden Geburtstag liefert die große Lateinamerika-Chronistin Isabel Allende die passende Lektüre für den Liegestuhl, der große Wurf gelingt ihr nicht.