

Jedem sein eigener Darkroom
Julia Kospach in FALTER 39/2010 vom 01.10.2010 (S. 24)
Haruki Murakamis Bücher haben schlank angefangen, als feine, schmale Erzählbände und Novellen. Im Lauf der Jahre sind sie – vielleicht auch mit zunehmendem Selbstbewusstsein, Erfolg ihres Erfinders – immer dicker geworden. Inzwischen kann man sie ohne Übertreibung adipös nennen. Einen neuen Fettleibigkeitshöhepunkt erreicht nun Murakamis neuer Roman "1Q84" mit 1023 Seiten. An dieses ziegelschwere Format hat sich der japanische Autor, Jahrgang 1949, langsam angeschlichen – über "Tanz mit dem Schafsmann" (461 Seiten) und "Kafka am Strand", das bereits beträchtliche 637 Seiten auf die Waage brachte. In einem Interview vor ein paar Jahren hat Murakami bekannt, dicke Bücher zu mögen. Für ihn seien sie, in der Nachfolge der großen russischen Erzähler des 19. Jahrhunderts, die "totalen Romane". Nun hat er die magische 1000-Seiten-Grenze kühn überschritten.
Wie man dieses "1Q84" auszusprechen hat, erschließt sich allerdings auch nach über 1000 Seiten nicht. "Hast du Eins-ku-vierundachtzig schon gelesen?" "Wie hat dir Eins-ku-acht-vier gefallen?" Also nein, das geht wirklich nicht und wird auch nicht besser dadurch, dass es etwas mit George Orwells "1984" zu tun hat und im Jahr 1984 spielt, in einer Nebenrealität zu diesem Jahr, um genau zu sein, in die Murakamis Helden nach und nach hineinwachsen.
Diese Parallel- und Unterwelten gehören mittlerweile zum fixen Bestandteil von Murakami-Romanen. Über das 16. Stockwerk eines Hotels oder einen Notausgang der Stadtautobahn betreten die Figuren Sphären, in denen andere Gesetze gelten als im gewohnten Leben. Dabei geht es weniger um die Erfindung ganzer Science-Fiction-Welten, sondern um die Konfrontation mit dem eigenen Inneren: Als stiegen sie hinab in den Keller ihrer selbst, dorthin, wo ihre Leichen liegen, ihre geheimen Wünsche und verschütteten Erinnerungen.
"Jeder hat seinen persönlichen Dark-
room", weiß Murakami, dessen Parallelwelten aus dem gleichen Material gemacht sind wie die Träume, in denen man sich im Schlaf bewegt: befremdend, zauberhaft, mitunter beunruhigend, aber in sich immer schlüssig, solange man sich innerhalb ihres Systems aufhält – also nicht aufwacht. Man könnte sagen, Murakami lesen ist wie in wachem Zustand träumen.
Im Kontrast zu diesem fremdartigen atmosphärischen Licht steht die Erzählkulisse des modernen Großstadt-Japan. Für Europäer noch immer fern genug, verliert Japan bei Murakami endlich seinen Exotismus. Es rückt näher, wird vertrauter und alltäglicher. Auch das ist eines seiner Verdienste.
Auch in "1Q84" gibt es wieder einmal zwei große Erzählstränge, die wie ein immer schmaler werdender Zopf miteinander verflochten werden. Eine junge Frau namens Aomame ist die Heldin des einen. Sie ist Fitnesstrainerin und Profikillerin im Dienst einer guten Sache: Im Auftrag einer alten, reichen Frau schafft sie gewalttätige Ehemänner und Vergewaltiger aus der Welt. Es ist allerdings auch ein Beruf, der übertriebene Geselligkeit vereitelt: Aomames Kontakt zur Außenwelt beschränkt sich auf gelegentlichen schnellen Sex mit in Bars aufgerissenen Geschäftsmännern.
Im zweiten Erzählstrang spielt der Mathematiklehrer und Amateurschriftsteller Tengo die Hauptrolle. Im Auftrag einer Literaturzeitschrift schreibt er den Roman eines geheimnisvollen 17-jährigen Mädchens um, der daraufhin zum Bestseller avanciert und die Ereignisse in Schwung bringt. "Puppe aus Luft" heißt der Roman im Roman. Darin taucht das seltsame Volk der "Little
People" auf, die nachts aus dem Maul einer toten Ziege kriechen und aus Luftfäden einen Kokon – oder eben eine Puppe – spinnen und allerlei Unheil anrichten.
Als Kinder sind sich Aomame und Tengo schon begegnet, als Erwachsene sehnen sie sich nach einander und kommen sich über Ahnungen, Zufälle und aus allmählich enthüllten Gründen auch immer näher. Dass sie in eine Parallelwelt übergetreten sind, wird ihnen erst nach und nach bewusst. Als erster Hinweis darauf zeigen sich ihnen mit einem Mal zwei Monde am nächtlichen Himmel. Auch in dem Roman "Puppe aus Luft" gibt es dieses Doppelgestirn. Darüber wird klar, dass die darin beschriebene Welt keine fiktive ist und sie darin bestimmte Rollen zu spielen haben.
In vielerlei Hinsicht ist "1Q84" ein klassischer Murakami-Roman, gemacht aus genau jenen Zutaten, die auch seine bisherigen Romane auszeichnen. Murakami kreiert surreale Bilder mit dem Zweck, das riesige Möglichkeitsspektrum der Wirklichkeit fassbar zu machen. Denn zumeist geht es um die Bewältigung moderner Lebenskrisen, am Ende steht man vor einem klassischen Entwicklungsroman, den man nicht gleich als solchen erkannt hat, weil er in ein fantastisches Gewand gehüllt ist.
Aomame und Tengo sind Einzelgänger, leben ein nicht verzweifeltes, aber doch einsames und seltsam abgeschottetes und außenseiterartiges Leben, sodass sie die Seltsamkeiten, die ihnen begegnen, erstaunlich gelassen hinnehmen. Dass sektenhaft organisierte Religionsgemeinschaften eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen, darf einen nicht weiter wundern: Das ist ein Gebiet, auf dem Murakami sich auskennt. Er hat ein Buch über den Sarin-Anschlag der Aum-Sekte auf die Tokyoter U-Bahn im Jahr 1995 geschrieben und dafür Dutzende Interviews mit Überlebenden des Attentats, aber auch mit Mitgliedern der Sekte geführt. Die Dynamik von Sekten gibt auch "1Q84" seinen Schwung. Sie schafft einsame Kindheiten, abgeschottete Räume und Platz für wilde Gerüchte.
Wunderlich und wundersam in einem ist auch das Personal der Nebenrollen: Da ist ein der Vergewaltigung kleiner Mädchen verdächtiger Sektenführer, der anderer Leute Gedanken lesen kann. Da ist die 17-jährige Jungautorin Fukaeri, die betörend schön und nicht von dieser Welt ist, ohne jede Intonation spricht und niemals überflüssige Fragen beantwortet. Da ist ein Bodyguard namens Tamaru, der über ungeheure körperliche Kräfte verfügt und zu Aomames Beschützer wird, da gibt es eine junge Polizistin mit Sinn für Sexabenteuer, in denen Handschellen eine fatale Rolle spielen oder Tengos jazzaffine ältere Geliebte.
Wie so oft bei Murakami ist Sex ein wichtiger Schlüssel zu jenen verborgenen Innenräumen, an deren Beschreibung er interessiert ist (es war übrigens ein Streit zwischen Marcel Reich-Ranicki und Sigrid Löffler über das Thema Sex in Murakamis Roman "Gefährliche Geliebte", der einst das Literarische Quartett implodieren ließ), und auch in "1Q84" geht es irgendwie dauernd um Sex.
Das Angenehme daran ist, dass Sex bei Murakami kein verschwitzt, verschämt und metaphernreich umzingeltes Gebiet ist, sondern ein selbstverständlicher Zeitvertreib, der in dem Maß frei von Schuld und Verlegenheit ist, in dem er wesentliche Einsichten gewährt. Gerade auf diesem Gebiet agiert Murakami mit allergrößter Leichtigkeit und hält auch in "1Q84" seine Geschichte zielsicher und elegant in einer magischen Balance, die irgendwo zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Wachheit und Schlaf angesiedelt ist. Dass der Roman über 1000 Seiten hat, fällt da gar nicht weiter auf.