

Der Autor ist auch nicht schlauer als wir
Sebastian Fasthuber in FALTER 4/2018 vom 26.01.2018 (S. 35)
Haruki Murakamis neuer Roman ist kein Glanzstück. Warum liest man ihn trotzdem gern?
Haruki Murakami ist ein Phänomen. Allein die deutsche Gesamtauflage seiner Bücher beträgt über sechs Millionen. Neben Paulo Coelho und Rosamunde Pilcher zählt er zu den erfolgreichsten Autoren der Welt. Literarisch ist er ein anderes Kaliber. Mag sein, dass auch die Romane des 69-jährigen, alterslos erscheinenden Japaners manch pseudophilosophische Sentenz enthalten. Wie es ihm gelingt, banale Alltagsverrichtungen so zu schildern, als ob sie von tiefer Bedeutung wären, ist in der zeitgenössischen Literatur jedoch einzigartig.
Ein Phänomen stellt Murakami auch insofern dar, als er ein von der Literaturkritik weithin gelobter Autor ist, obwohl er nicht besonders gut schreiben kann. Zumindest kümmert er sich nicht darum. Glänzende Formulierungen, die man zitieren möchte, sucht man in seinen Büchern vergeblich. Der ihm thematisch verwandte US-Kollege Paul Auster, dessen Werke ebenfalls voller einsamer Figuren auf der Suche nach ihrer Identität sind und die auch oft vom Realistischen ins Fantastische kippen, ist sprachlich weit ergiebiger.
Der erste Teil von Murakamis neuem Künstlerroman „Die Ermordung des Commendatore“ liefert wieder Anschauungsmaterial dafür, dass dieser eher trotz als wegen seines Stils erfolgreich ist. Wenn man sich dem unbestrittenen Flow und leisen Surren seines Erzählmotors ergibt, fällt aber kaum auf, wie behäbig und beiläufig der Meister zuweilen formuliert. Positiv betrachtet verschwindet der Stil ganz hinter dem, was der Autor erzählt und an Atmosphäre erschafft.
Tatsächlich aus der Bahn werfen einen nur die unnötigen Wiederholungen, die sich besonders in den ersten Kapiteln finden. „Was ich im Spiegel sehe, ist nichts weiter als eine optische Reflexion“, sagt die Frau, die den Erzähler am Beginn des Romans verlässt, bei ihrem letzten Telefonat. Nachdem aufgelegt wurde, wiederholt er drei Sätze später: „Sie hatte gesagt, das eigene Gesicht, das man im Spiegel sehe, sei nichts weiter als eine optische Reflexion.“ Ja, das hat sie.
Manches gerät Murakami auch etwas platt. Der Held seines Romans ist Maler und hat sich in den letzten Jahren mit Porträts ganz gut über Wasser gehalten. Dass er sich „wie eine Edelprostituierte der Kunst“ fühlt, ist gewiss kein originelles Bild, aber noch kein Beinbruch. Wenn er den Vergleich jedoch weiterführt und behauptet, dass bei der Arbeit „auch Gefühle involviert“ sind, klingt er ungefähr so realitätsnah wie ein Freier, der glaubt, eine Hure würde sich auch ein bisschen in ihn verlieben.
Trotz dieser Schwächen kann man sich der Geschichte, in die der namenlose Protagonist hineingezogen wird, nicht entziehen. Der Maler übersiedelt von Tokio in ein abgelegenes Landhaus, das ihm ein Freund zur Verfügung stellt. Bis vor kurzem hat dessen betagter Vater, ein sehr berühmter Künstler, der in den 1930ern in Wien studiert hat, darin gewohnt. Der neue Bewohner, der seine Exfrau vergessen und vielleicht auch wieder ernsthaft malen will, findet am Dachboden ein Bild mit dem Titel „Die Ermordung des Commendatore“.
Später erscheint ihm die Figur aus dem Gemälde als winzige, aber offenbar lebendige Gestalt, die sprechen und Gedanken lesen kann. Ungefähr zu der Zeit findet der Auftragsmaler wieder Inspiration und entwickelt plötzlich einen eigenen Stil. Sein merkwürdiger Nachbar, der ihm Modell sitzt, scheint an dieser Verwandlung auch nicht unbeteiligt zu sein.
An Identifikationspotenzial mangelt es nicht. Der Maler ist in seiner Mittelmäßigkeit ein typischer Murakami-Held, der stellvertretend für uns alle durchs Leben stolpert und meist nur reagiert. Erst als sich die mysteriösen Begebenheiten um ihn häufen, beginnt er zu handeln. Und doch bleibt er ambivalent. Er trauert seiner Exfrau hinterher, ohne irgendetwas zu unternehmen, um sie zurückzugewinnen. Im Grunde scheinen ihm die rein auf Sex konzentrierten Treffen mit zwei Kunstschülerinnen zu genügen.
Wie Murakami den Plot entwickelt, erst vereinzelt und dann immer mehr surreale Elemente einfließen lässt und nach etwas lauem Beginn im zweiten Teil für dramatische Spannung sorgt, das ist großartig gemacht. Zum Teil besteht sein Geheimnis darin, dass er seine Geschichten nicht vorausplant, sondern beim Schreiben intuitiv entwickelt. Demzufolge weiß er nicht viel mehr über das, was noch kommen wird, als der Leser. Das macht ihn zum Komplizen – und uns alle zu kleinen Murakamis.