

Wenn das Krokodil sein Maul aufreißt
Nicole Scheyerer in FALTER 11/2018 vom 16.03.2018 (S. 14)
Der jüngste Roman von Hanno Millesi führt als Pseudo-Thriller mit philosophischem Tiefgang durchs Kunsthistorische Museum
Eine Familie geht ins Museum, dann macht es „bumm!“. Mit einer Bombe setzte 2014 der furiose Kunstraub-Roman „Der Distelfink“ der Amerikanerin Donna Tartt ein. In „Die vier Weltteile“ greift nun auch Hanno Millesi das Motiv des Anschlags im Museum auf. Der Wiener Autor lässt zwar keinen Sprengsatz hochgehen, aber die Bedrohung durch einen Attentäter bildet das Movens seiner Odyssee durch die Gänge des Kunsthistorischen Museums.
Zwei Erwachsene und vier Kinder irren durch die Gemäldegalerie und reden über die alten Meister. So ließe sich der 150-seitige, an sich recht ereignisarme Roman zusammenfassen, wäre da nicht die unbekannte Gefahr, die von einem linkischen Museumswärter als „technisches Gebrechen“ deklariert wird. In welcher verwandtschaftlichen oder sonstigen Beziehung der Ich-Erzähler, seine Begleitung Wanda und die Kinder Emily, Iggy, Konrad und Tessa stehen, erfahren wir nicht.
Dafür verrät Millesi schon bald, dass die Gruppe heil herauskommen wird, verzichtet also bewusst darauf, den Balanceakt auf dem Grundgerüst seiner Handlung als thrill einzusetzen. Der Titel „Die vier Weltteile“ beziehen sich auf einen Ölschinken von Peter Paul Rubens, auf dem ein Krokodil mit aufgerissenem Maul zu sehen ist und die betrachtende Kinderschar erschreckt. Nicht furchteinflößend, sondern klischeehaft wird der Attentäter beschrieben: Er will ein religiöses Bild zerstören, weil es sich dabei um den „Kultgegenstand einer Irrlehre“ handle. Die Kinder nehmen an, dass er dem Turbanträger in einem Bild ähnelt – die altösterreichische Angst vor dem Osmanen lässt grüßen.
Der Roman fokussiert auf die Macht der Bilder, was wohl auch ohne Terrorgefahr und banale Medienkritik (die Journalisten lauern auf die „Opfer“) funktioniert hätte. Durch den Nachwuchs, der in seiner altklugen Art und Sprache an Sprösslinge aus englischen Romanen des 19. Jahrhunderts erinnert, werden frische Blickwinkel auf Ikonen wie Brueghels „Turmbau zu Babel“ oder Mantegnas „Heiligen Sebastian“ erschlossen.
Als sie das Museum mit ihren Schützlingen nicht verlassen dürfen, scheinen die zunehmend labilen Großen gegen das sogenannte „Stendhal-Syndrom“ anzukämpfen. Dabei handelt es sich um psychosomatische bis wahnhafte Reaktionen auf Kunstwerke. Der Schriftsteller Stendhal wurde 1817 in Florenz von heftigen Gefühlen und Herzrasen befallen; in den 1970er-Jahren wurden vergleichbare „Krankheitsfälle“ bei Besuchern der Uffizien festgestellt.
Millesis herumstreifende Gruppe hantelt sich förmlich an den Galeriebildern entlang. Sie trifft auf Mörderinnen und Märtyrer in Öl ebenso wie auf echte Museumsbesucher, von denen einige durch ihr abweichendes Verhalten irritieren. Vor einem sakralen Bild niederzuknien gilt eben nur vor einem Altar als normal und nicht in der Galerie. „Ist ein Museum so etwas wie eine Kirche?“, fragt der schlaue Iggy, noch ehe er auf die Betenden trifft.
Die im Roman auftauchenden Störfiguren wie „die verwirrte Frau“ oder „der am Boden sitzende Mann“ rufen Erinnerungen an das Theaterprojekt „Ganymed“ wach, das seit 2010 im Kunsthistorischen stattfindet und diesen März in die fünfte Runde gehen wird. Dabei werden literarische Texte, die eigens zu einzelnen Gemälden verfasst wurden, von Schauspielern in situ dargeboten. Mit „Die vier Weltteile“ fordert Millesi regelrecht dazu auf, auch ihn einmal an dieser Erfolgsproduktion zu beteiligen.
Selbst studierter Kunsthistoriker und ehemaliger Assistent von Hermann Nitsch, will der Autor aufzeigen, wie sehr uns historische Bildwerke affizieren und philosophisch anregen können, wenn wir das Augenscheinliche und das Verborgene unter besonderen Umständen neu zu sehen vermögen.
Das Vorhaben gelingt mit Humor und ohne dem Leser bildungsbürgerlichen Ballast aufzulasten. Bisweilen sind Millesis manierierte Schachtelsätze und die „aufgeweckten“ Kleinen zwar etwas nervig, aber der Roman macht definitiv Lust auf Kunst.