

Wie erzieht man vollkommene Krieger?
Kirstin Breitenfellner in FALTER 12/2024 vom 22.03.2024 (S. 8)
Manche Autorinnen arbeiten sich an einem einzigen Lebensthema ab, wie etwa Herta Müller. Andere bestehen anscheinend aus multiplen Persönlichkeiten, wie die 1975 in Bad Ischl geborene Autorin und leidenschaftliche Biologin Andrea Grill, die Romane, Lyrik, Kinderbücher und Sachbücher verfasst.
Sie lebte und studierte in Salzburg, Thessaloniki, Sardinien und Tirana und ist heute in Wien beheimatet, sie schrieb über Schmetterlinge, erklärte Kindern die Evolution und wandelte Mozarts „Hochzeit des Figaro“ in einen feministischen Roman um. Nebenbei übersetzt sie aus dem Albanischen, eine weitere Passion der Autorin, die zum Ausgangspunkt nicht nur für ihren Roman „tränen lachen“ (2008) wurde, sondern auch für ihren neuen, bereits fünften.
Sein erschreckender Titel lautet „Perfekte Menschen“. Man denkt an Aldous Huxleys „Schöne neue Welt“ von 1932, liegt damit gar nicht so falsch und beginnt zu hoffen, dass Grills Werk nicht ebenfalls einmal als luzide Vorhersage eines neuen Faschismus gelesen werden wird.
„Der Held dieser Geschichte erinnert an die mythische Figur des Ballaban Bandera“, beginnt das schmal gesetzte, nur 160 Seiten dicke Buch. „Er kam Mitte des 15. Jahrhunderts in Mat im heutigen Albanien zur Welt, als Sohn von Helena und Milosh, die ihn taufen ließen und christlich erzogen.“
Ballaban wurde als Kind für die Elitetruppe der Janitscharen ausgebildet, eine gängige Praxis der ottomanischen Sultane. In seiner Heimat Albanien gilt er jedoch als Verräter, weil er später gegen seinen eigenen Bruder kämpfte. Grill streicht von seinem Namen ein l und zeigt ihn als Kind, „das einem zerstörerischen System zum Opfer fällt“.
Ihre Neuinterpretation des Mythos ist angesiedelt in einer unbestimmten Zukunft nach dem Jahr 2049. In einem vereinigten Europa, in dem Ländergrenzen und kulturelle Eigenheiten überwunden sind, steht die Sicherheit an erster Stelle. Der Einzelne hat unendliche Wahlmöglichkeiten, „nur nicht: ohne Technik auszukommen“.
Flüsse wurden unter die Erde verlegt, um den Ertrinkungstod zu verhindern und Verdunstung zu minimieren. Ansteckungen mit Viren und Bakterien gehören weitgehend der Vergangenheit an. Wissenschaftler sind „vorrangig damit befasst, Katastrophen vorauszusagen und abzuwenden“. Grundlagenforschung wird indessen nicht mehr gefördert. Die Erderwärmung schreitet voran.
Wie alle Kinder wird auch Balaban mit Roboter-Spielkameraden und handyartigen Geräten namens Frieelys erzogen, oder vielmehr ruhiggestellt. Hier schreibt niemand mehr, außer Balabans Mutter, die sich aber beeilt, ihrem Sohn zu erklären, dass diese Tätigkeit sich als ineffizient erwiesen habe. Im Verlauf der Handlung wird zumindest diese Aussage widerlegt. Balaban übersteht die „schöne neue Welt“ des Ausbildungs- bzw. Umerziehungslagers auch deswegen, weil er eine eigene Schrift erfindet und sich so seiner selbst vergewissert.
Die Indoktrination in dem Camp besteht zunächst aus einem Einlullen in Komfort und Unterhaltung. Der Kontakt mit der Natur, von der sowieso nur noch Reste vorhanden sind, ist nicht vorgesehen. Wenn das Gefühl entstanden ist, nicht mehr wegzuwollen, bekommen die Jungen wieder ein Frieely. „Nur ohne Vergangenheit und Zukunft wurde man ein vollkommener Krieger“, so lautet die Devise. „Nur wer das Leben nicht liebte, war ein perfekter Mensch.“
Die Befürchtung, dass Grills Umwandlung einer Legende in eine Dystopie an Überfrachtung kranken könnte, erweist sich als unbegründet. Mit „Perfekte Menschen“ legt sie einen schlanken, zeitlos wirkenden Thriller vor, den man mit angehaltenem Atem liest, gerade weil einem daraus so vieles bekannt vorkommt.
Ein kleines Meisterwerk, das alle eingangs erwähnten Leidenschaften dieser vielseitig begabten Autorin vereint.